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1. wikipedia

2. Das Gewissen (Doktorarbeit der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart vorgelegt von Paul Dauner,

3. Gewissen

wikipedia.de am 16.1.2012

Das Gewissen (lateinisch conscientia, wörtlich „Mit-Wissen“) wird im Allgemeinen als eine besondere Instanz im menschlichen Bewusstsein angesehen, die sagt, wie man urteilen soll. Es drängt, aus ethischen bzw. moralischen und intuitiven Gründen, bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen. Entscheidungen können als unausweichlich empfunden oder mehr oder weniger bewusst – im Wissen um ihre Voraussetzungen und denkbaren Folgen – getroffen werden (Verantwortung).

Das einzelne Gewissen wird meist als von Normen der Gesellschaft und auch von individuellen sittlichen Einstellungen der Person abhängig angesehen. Ohne eine ethische Orientierung bleibt das Gewissen „leer“; „ohne Verantwortung ist das Gewissen blind“.[1]

Üblicherweise fühlt man sich gut, wenn man nach seinem Gewissen handelt; das ist dann ein gutes oder reines Gewissen. Handelt jemand entgegen seinem Gewissen, so hat er ein subjektiv schlechtes Gefühl; ein schlechtes, nagendes Gewissen oder Gewissensbisse.

 

Begriffsherkunft [Bearbeiten]

Die heutige Bedeutung von Gewissen geht wesentlich auf Martin Luther zurück. Vor ihm konnte Gewissen auch Bewusstsein oder ein verstärktes Wissen ausdrücken. Diese verengte Wortbedeutung stammt vom griechischen syneidêsis-Begriff und dessen lateinischer Übertragung conscientia. Das kann nicht angemessen mit „Bewusstsein“ oder mit „Gewissen“ übersetzt werden; eine neutrale Übersetzung wäre „Mitwissen“. Darunter kann man konkret das Mitwissen einer übergeordneten Instanz um das eigene Handeln verstehen, manchmal eher unser eigenes, handlungsbegleitendes Wissen um den moralischen Wert der Handlung.

Der Gewissensbegriff ist bereits im Daimonion des Sokrates angelegt: Eine innere Stimme warnt vor falschen Handlungen.

Juristische Sicht [Bearbeiten]

Der bundesdeutsche Gesetzgeber gesteht dem individuellen Gewissen eine hohe Bedeutung zu, beispielsweise indem er seinen Bürgern die Freiheit zur Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen einräumt (so Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.).

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Begriff in einer Entscheidung aus dem Jahre 1961 Konturen verliehen. Als eine Gewissensentscheidung gilt danach „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung […], die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.“[2]

Siehe auch: Gewissensfreiheit

Verschiedene Gewissensvorstellungen [Bearbeiten]

Psychoanalyse von Sigmund Freud [Bearbeiten]

Das Strukturmodell der Psyche nach Sigmund Freud beruht auf der Unterscheidung von Es, Ich und Über-Ich. Seiner Vorstellung nach wird das unbewusst-triebhafte Es in seinen Äußerungen durch das Über-Ich hemmend kontrolliert. Dabei wird das Über-Ich verstanden als Introjekt, also Verinnerlichung der elterlichen und gesellschaftlichen Autorität, wodurch sich das Gewissen herausbildet. Es veranlasst das Kind, gesellschaftlich übliche oder erwartete Verhaltensweisen und Erwartungen einzuhalten. Das reife Ich, die individuelle Persönlichkeit mit ihren aus Erfahrung gewonnenen bewussten Wertsetzungen, bildet sich in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner gesellschaftlichen Umwelt und durch Überwindung der Anforderungen des Über-Ichs.

Analytische Psychologie von C. G. Jung [Bearbeiten]

Für C. G. Jung ist das Gewissen ein unbewußter, autonomer Komplex der menschlichen Psyche, der sich gegebenenfalls auch gegen die bewusste Absicht des Individuums durchsetzt. Es wird unterschieden zwischen einem sittlich-moralischen und einem ethischen Gewissen.

Das sittlich-moralische Gewissen richtet sich nach den tradierten Wertvorstellungen und Glaubenssätzen einer Gesellschaft. Alles, was hier den entsprechenden Gebräuchen, Verhaltensnormen und Moralgesetzen entspricht, gilt als sittlich bzw. als moralisch (mores: Sitten, Gebräuche; moris: zur Regel gewordener Wille, Brauch). Dabei ist das moralische Gewissen nicht nur das Ergebnis von Umwelt, Erziehung und Gewohnheit, sondern auch von vererbten instinktiven Verhaltensweisen. So unterscheidet sich das moralische Urteil von misshandelten und vernachlässigten Kindern (im Alter von drei bis fünfeinhalb Jahren) wenig von dem der Altersgenossen.

Die ethische Form des Gewissens tritt dort auf, wo zwei moralische Forderungen oder Handlungsweisen gleichberechtigt nebeneinander stehen und das Individuum in eine Pflichtenkollision treiben. Nun stehen sich Sittenkodex und das persönliche Gewissen als unvereinbar gegenüber. Der Betroffene kann zum ersten Mal erleben, dass es einen Unterschied zwischen der traditionellen und konventionellen Moral und dem Gewissen gibt. Auch zeigt sich, dass die Sitte selbst ihm hier keine befriedigende oder überhaupt keine Antwort und Hilfe geben kann, er erlebt seine Situation als höchst individuell. Ist der Betroffene bereit, seinen Gewissenskonflikt auszutragen, so mündet dies in einen neuartigen, individuellen Urteilsakt, der auch als schöpferische Leistung verstanden werden kann. Dabei ist dem Ausführenden klar, dass die Gesellschaft sein neues Handeln nicht gutheißen oder billigen wird. Er spürt aber, dass der bequeme Weg der sittengemäßen Entscheidung, durch Unterdrückung der Gewissensinhalte, langfristig in Krankheit und persönliche Entfremdung führen muss.

Aufgrund dieser hohen, autonomen Dynamik, mit welcher sich das ethische Gewissen auch gegen die traditionelle Moral durchzusetzen weiß, ist es als „Vox Dei“, als Gottesstimme zu verstehen. Es setzt sich gleich einer göttlichen Intervention auch gegen den Willen des Individuums durch. Nicht der Mensch hat ein Gewissen, sondern das Gewissen hat den Menschen.

Im Kontext der primitiven Völker ist das ethische Gewissen eine Mana-Erscheinung und führt in seiner Umsetzung zum Tabubruch. Die traditionelle Stammesmoral mit ihren Tabu-Regeln und Ritualen wird dadurch in Frage gestellt, verändert und erneuert und den tatsächlichen Lebensbedingungen angepasst. Der ausgetragene Gewissenentscheid verhindert, dass die Gesellschaft in einem veralteten und rein konventionellen Moralkodex erstarrt.[3]

Philosophische Sichtweisen [Bearbeiten]

Kantsche Philosophie [Bearbeiten]

Nach Immanuel Kant enthält die praktische Vernunft ein a priori, ein jeder Moral vorhergehendes Grundprinzip. Dieses a priori bestimmt den kategorischen Imperativ. Der gilt absolut und überall und ist von jedem anwendbar. Er wird auch als „das gute Gewissen“ umschrieben und sei eine notwendige, aber keine hinreichende Grundlage für gutes Handeln.

Nietzsche [Bearbeiten]

In Nietzsches Zur Genealogie der MoralHYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Gewissen"[4] wird das „Gewissen“ mit „Schuld“, „Pflicht“ und „Heiligkeit der Pflicht“ auf eine Ebene gestellt. Instinkte, die nicht aktiv gelebt werden können, „wenden sich nach innen“.[5] „Schuld“ und „Pflicht“ gegenüber den vorherigen Generationen werden in Gestalt des „schlechten Gewissens“ schließlich zu einer unabzahlbaren Schuld: „[Im Schuldner], in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaßen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der ‚ewigen Strafe‘) concipiert ist –;...“.[6]

Das „schlechte Gewissen“ in seiner „aktivischen“ Gestalt ist nach Nietzsche möglicherweise die Bedingung für die Entstehung ästhetischer Empfindung im Sinne von „Bejahung und Schönheit“.[7]

Der Begriff „schlechtes Gewissen“ wird mit unterschiedlicher Konnotation verwandt. Es schimmert eine Parallele zwischen Phylogenese und Menschwerdung im individuellen, subjektiven Sinne durch. Das „schlechte Gewissen“, eine nach Nietzsche offenbar genuin menschliche Eigenschaft, die – ganz klar wird das nicht – wohl jedem Menschen zukommt, zumindest aber dem Künstler eigen ist, muss überwunden werden, bejaht werden, vielleicht auch integriert werden, um Schönheit, Seele, Ideale schaffen zu können.

Dialektischer Materialismus [Bearbeiten]

Nach dem Dialektischen Materialismus (Marx) spiegelt das Gewissen den wandelbaren Gesellschaftszustand, welcher sich aus wechselnden materiellen Produktionsverhältnissen erkläre, wider. Da die Materie, die einzige Wirklichkeit, sich ständig verändere, gelte keine sittliche Wahrheit absolut.

Richard Mervyn Hare [Bearbeiten]

Richard Mervyn Hare erklärt das schlechte Gewissen als eine Art Ersatz für echte Präskriptivität. Durch die Eigenschaft der Präskriptivität muss sich jeder moralisch handelnde Agent als an seine eigenen Urteile gebunden betrachten, so dass er sie ausführen muss, wann immer er physisch und psychisch dazu in der Lage ist.

Mit anderen Worten: Nach Hare ist es nicht sinnvoll zu sagen „Ich sollte X tun“, um dies dann doch zu unterlassen. Es fällt aber manchmal leichter (und Einigen erscheint es sogar als die einzige Möglichkeit, sich die Dinge zu erklären), sich in Selbstvorwürfe (Versagen im „kritischen Denken“) oder aber in eine gewisse Opfermentalität („psychische Unfähigkeit“) zu flüchten, statt die volle Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen und entsprechend zu handeln.[8]

Dass es viele vorziehen, Selbstverantwortung so weit wie möglich an äußere oder innere Sündenböcke (den Staat, die Polizei, die Nachbarn, die Ausländer, Süchte, das eigene Unvermögen) abzugeben, ist bekannt. Es wird jedoch kritisiert, dass die Rechtfertigung dieser Verhaltensweise durch wissenschaftliche Theorien ungeeignet ist, den Menschen zu einem moralisch verantwortungsvollen Dasein zu verhelfen.

Religiöse Gewissensvorstellungen [Bearbeiten]

Christliche Gewissensvorstellungen [Bearbeiten]

Gewissen in der Bibel [Bearbeiten]

Das Alte Testament kennt kein eigenes Wort für Gewissen. Vielmehr werden die Funktionen des Gewissens dem „Herzen“ oder manchmal den „Nieren“ als dem Inneren des Menschen zugeordnet. Dabei bezeichnen das Herz als der Ausgangspunkt guter wie böser Taten mehr die verstandesmäßige, die Nieren mehr die gefühlsmäßige Komponente des Gewissens. Bsp: 2.Sam 24,10: „nachdem David das Volk gezählt hatte, schlug ihm das Herz (= das Gewissen)“. In Jeremia 12,2 werden die Gottlosen beschrieben: „Du bist nur ihrem Munde nahe, aber fern von ihren Nieren“, d. h. sie reden zwar von Gott, aber ihre innersten Entscheidungen und Gefühle wollen sie nicht von ihm beeinflussen lassen. Im Neuen Testament werden die Bezeichnung Herz und parallel dazu der griechische Begriff syneidäsis = Mitwisser, Gewissen (ca. 30 *) verwendet. In Röm 2,15 wird anschaulich beschrieben, was im Gewissen vor sich geht: „Sie beweisen damit, dass in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert, zumal ihr Gewissen es in ihnen bezeugt, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen.“ Das befleckte Gewissen kann durch das „Blut Christi“ gereinigt werden, d. h. durch das In-Anspruch-Nehmen des vollbrachten Opfers Jesu Christi für die Tat, die die Gewissensbisse verursacht hat (Heb 9,14). Da das Gewissen kein in sich absoluter Maßstab ist (1.Kor 4,4), ist es wichtig, es durch das Ausrichten am Wort Gottes immer wieder zu schärfen (Röm 12,2). Darüber hinaus gesteht Paulus bei einzelnen „zweifelhaften Fragen“ zu, dass es zu unterschiedlichen Bewertungen bei Christen kommen kann. Dann (aber nicht bei eindeutigen Antworten der Heiligen Schrift) sollte man sich nicht im Verhalten an andere anpassen, sondern dem eigenen Gewissen folgen (Röm 14; 1.Kor 8 + 10). Das wichtige Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten wird unterstrichen durch die Aussage in 1.Tim 1,5–6: „Das Endziel der Unterweisung aber ist Liebe aus reinem Herzen und aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben. Dieses Ziel haben einige aus den Augen verloren und haben sich nutzlosem Geschwätz zugewandt.“

Thomas von Aquin [Bearbeiten]

Thomas von Aquin definiert, im Anschluss an Albertus Magnus, das Gewissen als Vollzug eines Urteils über den moralischen Wert einer Handlung. Er erkennt im Gewissen zwei Aspekte, eine Gewissensanlage (synderesis) und den konkreten Gewissensakt (conscientia), in dem von außen herangeführte Normen und Erfahrungen auf Grund der Gewissenanlage zu einem Urteil verschmelzen. Das Urteil des Gewissens ist für von Aquin die letzte Instanz, nach der sich der Mensch zu richten hat, auch wenn er damit der offiziellen Kirche widerspricht. Das Gewissen vollzieht die Gründe und Überlegungen nach, die zu dieser Handlung geführt haben, ist aber nicht wie das Streben nach Vermögen dem Einfluss durch Emotionen und Affekte ausgesetzt. Deshalb kann es zu einem Missverhältnis zwischen Handlungswahl und Gewissensurteil kommen (genannt „schlechtes Gewissen“). Das schlechte im Sinne eines peinigenden Gewissens tritt aber erst bei Luther in den Vordergrund, der dieses zur Grundform des Gewissens erklärt.

Protestantische Theologie [Bearbeiten]

Die Reformation setzt mit Luthers Gewissenskrise auf Grund der Kirche seiner Zeit ein. Für viele Protestanten hat die individuelle Gewissensentscheidung im Glauben mehr Gewicht als die Unterwerfung unter kirchliche Autoritäten oder bestimmte Lesarten der Bibel. Diese Entwicklung beginnt schon bei Martin Luther selbst. Am 18. April 1521 musste Luther vor Kaiser und Reich auf dem Reichstag zu Worms erscheinen und zu seinen Schriften Stellung nehmen. Er beschließt seine Rede mit den Worten:

„Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht; es steht fest, dass sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte überwunden. Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“[9]

Luther beruft sich damit auf die Freiheit des Gewissens. Das ist an sich nichts radikal Neues gewesen; seit Thomas von Aquin wurde das Gewissen als die Instanz im Menschen verstanden, dem unbedingt zu folgen ist, selbst wenn es irrt. Darauf beruft sich Luther vor dem Reichstag zu Worms; und doch bestimmt er den Begriff des Gewissens neu: Es ist hier nicht die von Gott in den Menschen gelegte handlungsorientierende Instanz, sondern es ist in der Bindung an das Wort Gottes handlungsbeurteilende Instanz.[10] Das heißt, das Gewissen ist nunmehr nicht göttlichen Ursprungs, wie in der mittelalterlichen scholastischen Theologie (synteresis vs. conscientia, s. oben), sondern nichts anderes als das innerpsychische Mitwissen des Menschen mit seinem Tun und die von äußeren, vorgegebenen Werten geprägte Beurteilungsinstanz im Menschen selbst. Damit orientierte Luther sich an der Bedeutung von „Gewissen“, wie er es in den Briefen des Apostels Paulus vorgefunden hat:[11] Hier verwendet Paulus das Wort syneidesis, was das „Mitwissen“ mit sich selbst bedeutet.

In neuerer Zeit hat vor allem der Theologe Albrecht Ritschl den Gewissensbegriff im Sinne der Individualität des Gewissens maßgeblich beeinflusst. Ritschl betont die Notwendigkeit von vorgegebenen und beständigen Orientierungswerten. Ritschl bewegt sich allerdings nur innerhalb der christlichen Ordnungsvorstellungen und leitet den Gewissensbegriff aus dem christlichen Tugendbegriff ab. Und dabei wäre er in eine übergreifende Sittlichkeit einzuordnen, wie sie etwa die Menschenrechte darstellen.[12]

John Henry Newman [Bearbeiten]

Für John Henry Newman gibt es im Gewissenserlebnis Momente der Tiefe, in denen der Mensch das Echo der Stimme Gottes vernimmt. Er vertritt damit eine eher mystische Auffassung von der Anwesenheit Gottes im menschlichen Gewissen.

2. Vatikanisches Konzil [Bearbeiten]

Im Zweiten HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Zweites_Vatikanisches_Konzil"Vatikanum besteht eine Spannung in der Erklärung der Wirkungsweise des Gewissens, die vom Kompromisscharakter der Konzilstexte herrührt. Nach der Pastoralkonstitution GaudiumHYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Gaudium_et_spes" et HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Gaudium_et_spes"spes ist das Gewissen ausgezeichneter Ort der Gottesbegegnung, „verborgenste Mitte“ und „Heiligtum im Menschen“. An anderer Stelle ist jedoch die Rede von einem „Gesetz, [...] dem der Mensch gehorchen muss“.[13]

Hier sehen einige Interpreten einen Widerspruch zwischen autonomer Gewissensentscheidung des Einzelnen und Gewissen als Ausrichtung an internalisierten kirchlichen Sittennormen. In der nachkonziliaren lehramtlichen Entwicklung, den Enzykliken HumanaeHYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Humanae_Vitae" Vitae oder VeritatisHYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Veritatis_Splendor" HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Veritatis_Splendor"Splendor tritt der zweite Aspekt in den Vordergrund und die freie Gewissensentscheidung im Dialog mit der „inneren Stimme“ wird als weniger bedeutsam angesehen.

Der Katechismus der Katholischen Kirche (1993) betont, dass das Gewissen lebenslang anhand des Wortes Gottes gebildet und geformt werden muss, damit es ein richtiges Urteil abgeben kann (Gewissensbildung, Katechismus Nr. 1783–1785). Das Gewissen kann richtig urteilen, wenn es in Übereinstimmung mit der Vernunft und dem göttlichen Gesetz ist, oder irren, falls es sich an beides nicht hält (Katechismus Nr. 1786). Der Mensch muss auch einem irrigen Gewissen folgen, wenn er sich um die rechte Gewissensbildung bemüht hat (Katechismus Nr. 1793).

Zur Erforschung des Gewissens des Einzelnen beinhaltet das Gotteslob den Gewissensspiegel.

Soziologische Sichtweise [Bearbeiten]

Systemtheorie [Bearbeiten]

Niklas Luhmann interpretiert das Gewissen als eine Funktion im Dienste der Identitätsbildung:

Die Möglichkeiten, die ein Mensch hat, sich zur Welt zu verhalten, sind weit größer als die Fähigkeit, sie (alle auf einmal) zu realisieren. Ich kann ein Schurke sein, ein Heiliger, ein Feigling, ein Held – aber nicht alles auf einmal. Der Mensch wählt bestimmte Optionen und schlägt andere aus und bildet so eine Persönlichkeit aus, d. h. er wird zu einer selektierenden Struktur, die typischerweise so und nicht anders handelt. Der Mensch braucht Kontrollinstanzen, mit denen es ihm gelingt, eine konstante Persönlichkeit zu sein und zu bleiben, „und eine solche Kontrollinstanz [...] ist das Gewissen [...]. Jedes sichtbare und in diesem Sinne äußere Verhalten des Menschen [...] sagt etwas darüber aus, was der Mensch ist. Er stellt sich, ob er will oder nicht, in seinem Verhalten dar und legt sich damit fest, da die Zeit sein Verhalten unwiderruflich [...] in die Vergangenheit entrückt. Will er sich als identische Persönlichkeit darstellen, muss er die Kontrolle über sein Erscheinen behalten. Das ist nur möglich, wenn er sich durch innere Vorgänge, die dem Einblick entzogen sind, objektiviert. Wie George Herbert Mead gezeigt hat, stützt er sich bei dieser Reflexion auf die Tatsache, dass andere ihn objektivieren und dass er deren Einstellung übernehmen kann. [...] Da seine Situationen und Verhaltensprobleme recht komplex sind, muss er seine Persönlichkeit verinnerlichen, seine persönlichen Werte abstrahieren, sich an seine Selbstdarstellungsgeschichte erinnern können. Je weiter er auf diesem Wege der Persönlichkeitsbildung kommt, desto weiter kann er seine Selbstdarstellung spannen, desto komplexer kann seine Lebenswelt sein. Nie aber braucht er die Komplexität der ganzen Welt in seinem Innern widerzuspiegeln. Die Funktion der Persönlichkeit liegt mithin auf dem Gebiet der Reduktion der unzähligen Potentialitäten des Ich zu einer kohärenten, individuellen Selbstdarstellung.“

Dem dient, wie gesagt, das Gewissen. Genau so versteht auch die Alltagsintuition dessen Rolle, wenn man sagt, man müsse doch noch morgens in den Spiegel sehen können, um zu prüfen, ob man noch derselbe oder was aus einem geworden sei. Das Gewissen stellt die in die Zukunft gerichtete Frage, was aus mir werden soll, und blickt in die Vergangenheit auf das, was aus mir geworden ist – „im Gewissen stellt man das eigene Sein zur Entscheidung“. „Nach der Tat [...] [zwingt] das Gewissen [...] zur Identifikation mit der Vergangenheit, zu der Erkenntnis, dass ich auch jetzt noch und für immer einer bin, der so handeln konnte. Das Gewissen fordert mich dann auf, in den Trümmern meiner Existenz die verbleibenden Möglichkeiten neu zu ordnen.“[14]

„Luhmann definiert [...] das Gewissen als systemregulatives Element ohne zwingende ethische Aussage. Er weist ihm die kybernetisch relevante Funktion zu, die bedrohende Freiheit der Wahl des einzelnen auf ein für diesen erträgliches Maß einzuschränken. Nur so können nach Luhmann die personale Identität und die Selbigkeit des Individuums gesichert werden. Hier liegt also eine gewissermaßen funktionale und im Wesentlichen nicht-ethische Interpretation des Gewissensbegriffs vor, der das Phänomen als solches jedoch nicht leugnet. Das Gewissen als psychosoziale Ordnungsfunktion des Menschseins ohne definitive Wertbindung entspricht dabei dem radikal metaphysikkritischen Ansatz der Systemtheorie.“[15]

Verhaltensbiologische Sichtweise [Bearbeiten]

Ebenen der Verhaltenssteuerung nach Doris Bischof-Köhler [Bearbeiten]

Siehe auch: Stufentheorie des moralischen Verhaltens nach Lawrence Kohlberg

Doris Bischof-Köhler hat in ihrem Modell die Entwicklungsstufen des moralischen Urteilens nach Kohlberg entscheidend erweitert. Ihr Modell geht von Funktionsschichten aus. Anders als bei Kohlberg bleiben demnach beim Erreichen einer höheren Ebene zugleich die anderen Ebenen aktiv und sie stehen in Wechselwirkung zueinander.

1. Ebene – Impulsiv, rein biologisch bedingt

Gengesteuerte Verhaltensprogramme beim Säugling – „Reifung“

Beispiel: Saugreflex beim Säugling

2. Ebene – Lernen durch individuelle Erfahrung

„Biologische Reifung“ wird durch Gelerntes ergänzt

Beispiel: Bindung an eine Dauer-Bezugsperson, Lernen des Schuhebindens

3. Ebene – Mitempfinden

Teilhabe an der Emotion des Anderen, Erkenntnis, dass äußerer Gefühlsausdruck beim Anderen etwas auslöst

„Mitempfinden“ beruht grundsätzlich auf biologischer Fähigkeit (Spiegelneurone)

4. Ebene – Einfühlung

Innerliche Vergegenwärtigung der Situation des Anderen, sich in ihn hineinversetzen können

Höhere kognitive Leistung als „Mitempfinden“ – setzt das Ich-Bewusstsein voraus, bei dem man sich selbst gleichsam aus der Perspektive Anderer betrachtet

5. Ebene – Hineindenken

Fähigkeit, sich nicht nur in die Situation, sondern auch ins Handeln des Anderen hineinzuversetzen

„Zeitreise“ – Das Kind konstruiert sich aus Beobachtungen und Empathie Theorien, wie sich eine Person in Zukunft verhalten wird

6. Ebene – Sozial- und Rechtsordnungen bejahen

Aus Einsicht werden übergeordnete Regeln und Ordnungen anerkannt

Bernhard Hassenstein [Bearbeiten]

Hassenstein bezieht sich bei seiner Beschreibung des Gewissens auf das Modell von Köhler-Bischof.

Ursprung und Funktionsweise [Bearbeiten]

Die Schlüsselrolle bei der Gewissensentscheidung nimmt aus verhaltensbiologischer Sicht der Höchstwertdurchlass ein. Umgangssprachlich kann man ihn auch als „Hemmschwelle“ bezeichnen.[16] Er ist die Instanz der Entscheidung zwischen miteinander unvereinbaren Verhaltenstendenzen. Der jeweils stärkste Verhaltensimpuls „gewinnt“ dann die Gewissensentscheidung.

Die Verhaltensimpulse stammen aus drei Bereichen: biologisch bedingte Impulse,durch Vorgänge und Ergebnisse des Lernens geprägte Impulse und durch geistige Prozesse geprägte Impulse. Nach Hassenstein sind biologisch bedingte Impulse die stärksten. So „überrennen“ Gefühle wie panische Angst bei einer Gewissensentscheidung leicht „geistige Impulse“, wie zum Beispiel die Überzeugung, einem Menschen in einer Notsituation zu helfen.[17]

Die „Inhalte“ des Gewissens sind nach dem verhaltensbiologischen Modell grundsätzlich unbestimmt. So ist es auch auf der Stufe 6 von Bischof-Köhlers Modell möglich, dass das Verfolgen von Werten wie „Gottes Gebote“, „das Anständige“, „das Gesunde“" in bestimmten kulturellen Gegebenheiten zu grausamen Resultaten führt und auch schon geführt hat. Nach Hassenstein wird der Inhalt des Gewissens prinzipiell nur begrenzt durch das, „was menschliche Phantasie und Gedankentätigkeit hervorbringen können.“[18]

Dem Wissen kommt bei der Gewissensentscheidung große Bedeutung zu. Verhängnisvolle Fehler bei schicksalsträchtigen Gewissens-Entscheidungen lassen sich durch größeres anwendbares persönliches Wissen verringern. Wichtiger als theoretisches Wissen sind dabei eigene Lebenserfahrung und eigenes Handeln, sowie Erfahrung, die aus Beobachtung und Anhören von möglichst unterschiedlichen Gesprächspartnern gewonnen wurde.[19]

Gewissenloses Handeln und Gewissensnot [Bearbeiten]

Es gibt biologische Gegebenheiten, die die Stimme des Gewissens betäuben.[20] Vier Beispiele:

·         Gruppenaggression: Komplizierter Mechanismus, der zu „Schwarz-Weiß-Denken“ einer Gruppe führt; „Freund oder Feind – Nichts dazwischen.“ Ein Beispiel für Gruppenaggression ist die Haltung der Bevölkerung der kriegsführenden Staaten kurz nach Ausbruch des ersten Weltkriegs.

·         Allgemeine angstbedingte Denkhemmung: Jemand, der z. B. unter starker Prüfungsangst leidet, kann sich nicht „frei“ entscheiden, eine Prüfung anzutreten.

·         Spezielle angstbedingte Denkhemmung (Verdrängung): Man umgeht Gedanken, die unerträglich waren. Ein Gedanke ist mit angstbesetzten Assoziationen verknüpft und wird daher vermieden. Der Rest des Denkens verläuft aber normal. Besorgniserregende Sachverhalte sollten daher bewusst „zu Ende gedacht“ werden.

·         Fehlende Partnerschaft zwischen Erwachsenen und Kindern: Sie führt dazu, dass die Ebenen Mitempfinden (3), Einfühlung (4) oder Hineindenken (5) nicht richtig ausgeprägt sind. So zeigen manche jugendliche Gewalttäter keinerlei Mitgefühl für ihre Opfer.

Gewissensnot entsteht, wenn man sich zwischen zwei Handlungen entscheiden muss, die beide vom Gewissen gefordert werden, aber einander widersprechen. Diese unausweichlichen Widersprüche in Einzelfällen sind durch die Gegebenheiten unserer Welt bedingt. Ein andere Art von Gewissensnot entsteht, wenn unbegründete Schuldgefühle übermächtig werden (Bsp: Kinder, die sich für die Scheidung der Eltern mitverantwortlich fühlen).[21]

Kraftquellen des Gewissens [Bearbeiten]

Es stellt sich die Frage, was aus verhaltensbiologischer Sicht Menschen die Kraft gibt,[22] ihre „Gewissensentscheidung“ auch gegen massive Nachteile oder Gefährdungen zu vertreten. Nach Hassenstein brauchen Wahrnehmungen und gedankliche Einstellungen einen gefühlsmäßigen Faktor (dieser gehört zu einer ursprünglicheren Ebene der Verhaltenssteuerung), um zum Imperativ zu werden. Erst dann setzen sie sich im Höchstwertdurchlass gegen andere Verhaltenstendenzen durch.

Untersuchungen zu den „Rettern“, welche vom Tode bedrohten Menschen in Nazideutschland geholfen haben, lassen auf bestimmte Charakterzüge schließen, die als „Kraftquellen des Gewissens“ benannt werden können. Dazu gehören das häufige Lob der Eltern für gutes und richtiges Verhalten, ein enges und gutes Verhältnis zu einem Elternteil, weitere Erstreckung des mitfühlenden Verhaltens, das man an einer Vorbildpersönlichkeit wie zum Beispiel Albert Schweitzer festmachen kann.

Literatur [Bearbeiten]

·         Hassenstein, Bernhard: Gewissen in der biologischen Anthropologie. In: Stimmen der Zeit. 11, Nr. 11/2009, S. 761-773.

·         Ludger HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Ludger_Honnefelder"Honnefelder: Was soll ich tun, wer will ich sein ? Berlin University Press 2007, ISBN 978-3-940432-05-6.

·         Roland Mahler, Gewissen und Gewissensbildung in der Psychotherapie. Vs Verlag, 2009, ISBN 978-3-531-16695-7.

·         Dietmar Mieth: Gewissen. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. (Bd. 12) (Enzyklopädische Bibliothek in 30 Teilbänden) Freiburg 1981 , S. 138-181.

·         Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung. Freiburg 2003.

·         Heinz Dieter HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Dieter_Kittsteiner"Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Insel Verlag.

·         Theodor Heuss, Kurt von HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kurt_von_Stutterheim&action=edit&redlink=1"Stutterheim: Die Majestät des Gewissens. Christians Verlag, 1962, ASIN: B0000BOEBA.

·         Siegfried Fischer-Fabian: Die Macht des Gewissens - Von Sokrates bis Sophiescholl. Bastei Lübbe, 2005, ISBN 3-404-64212-0.

·         Oswald HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Oswald_Schwemmer"Schwemmer: Gewissen. In: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. Aufl. Metzler, Stuttgart/Weimar 2008, Bd. 3. (mit umfangreicher Bibliographie)

·         Ole HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Ole_Hallesby"Hallesby: Vom Gewissen. R. Brockhaus Verlag, Wuppertal 1988.

Paul Dauner: Das Gewissen. Dissertation, Universität Stuttgart, 2008 (PDF; 1,7 MB

  

 

 

 

 

Das Gewissen

von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart

zur Erlangung der Würde eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.)

genehmigte Abhandlung vorgelegt von Paul Dauner,

 

 

9 Gegenwärtige Theorietendenzen

 

Der psychologische Konturierungsversuch

Das Kriterienproblem stellt sich in unaufschiebbarer Weise für die mit der Grundrechtsauslegung befasste Rechtswissenschaft. Sie muss allgemeingültig nachvollziehbar ein Realitätssegment benennen können, auf das der positivrechtliche Normbefehl der Gewissensfreiheit bezogen werden kann. Andernfalls, wenn die betroffenen Individuen allein darüber befänden, ob ein gültiger Gewissensfall vorliegt, wäre das Grundrecht gar nicht mehr justitiabel. Es geht der Rechtswissenschaft also darum, den grundrechtlich geschützten Gegenstandsbereich Gewissen für das positive Recht überhaupt erkennbar zu machen und ‚echte’ Gewissenspositionen von nicht durch das Grundrecht abgedeckten Haltungen (wie subjektiven Wünschen, (Ab-)Neigungen und bloßen Egoismen) zu unterscheiden.354 Dabei ist die Justitiabilität nicht nur für die Rechtsordnung unerlässlich (da ihre Geltung sonst durch den individualistisch einsetzbaren ‚Joker’ des Gewissensfalls jederzeit aufgesprengt werden könnte und sie so ihre allgemeine Verbindlichkeit einbüßen würde), sondern auch für den Träger des Grundrechts; denn derjenige, dem es aus sprachlichen oder intellektuellen Gründen nicht möglich ist, seine Situation als Gewissensfall plausibel darzustellen, wäre benachteiligt, er könnte das Grundrecht nämlich nicht einmal in Anspruch nehmen. Wiederum ergibt sich die Schwierigkeit dadurch, dass mit dem Verlust der inhaltlichen Bewertungsgrundlage (der Qualifizierung von Gewissenspositionen nach richtig oder falsch) auch zuverlässige und justitiable Kriterien einer Handhabung des Begriffs verlorengegangen sind. Wie könnte also eine ‚echte’ Gewissensposition bei Wahrung der Wertneutralität noch konstatierbar sein?

Oftmals differieren ‚echte’ Gewissenspositionen von andersgearteten subjektiven Haltungen (bloßen Bedenken, Unlustgefühlen oder egoistischen Absichten) dadurch, dass sich das betroffene Individuum mit der eingenommenen Haltung in hohem Maße identifiziert. Es sieht sich in einer unbedingten Weise verpflichtet; bei einer Abweichung von der Forderung des Gewissens scheint die eigene Identität und Integrität in Frage zu stehen. Durch das Gewissen ist die Person also im Ganzen, bis in das innerste Selbstverständnis betroffen. Dies äußert sich

empirisch-psychologisch meist durch eine starke Affektivität, von der jede authentische Gewissenshaltung begleitet zu sein scheint. Beispielsweise gehen intensive unangenehme Gefühle mit einer verfehlten Gewissensforderung einher und machen so das sogenannte schlechte Gewissen aus.356 Folglich lassen sich Gewissensfälle (nämlich höchstpersönliche sittliche Wertpositionen) durch die starke affektive Komponente kriteriell aus der Vielzahl möglicher subjektiver Haltungen herausfiltern.357 Spezifische, empirisch aufweisbare psychologische Charakteristika definieren damit das vom Grundrecht der Gewissensfreiheit angepeilte Realitätssegment, filtern aus dem Wirklichkeitszusammenhang die in den Regelungszusammenhang fallenden Gegebenheiten. Vielversprechend ist dieses von der modernen Rechtswissenschaft favorisierte empirisch-psychologische Verfahren359, da es eine Diskriminierung von Gewissensfällen ohne Rekurs auf objektiv-ethische Normativität gestattet. Jede subjektive Wertposition kann so zur Grundlage einer Gewissensentscheidung werden – sofern sie nur hinreichend stark präferiert wird. Doch was ist daran sittlich? Folgt aus der psychischen Präferenzstärke irgendein sittlicher Wert des Gewissens?360 Ist der starke psychische Druck nicht vielmehr, wie Arendt in einem ähnlichen Kontext bemerkt, „ein Kennzeichen von Übergeschnappten“361? Natürlich ist zu berücksichtigen, dass der rechtswissenschaftliche Lösungsansatz primär keine ethische Fragestellung verfolgt, sondern eine rechtlichpragmatische; 362 die Rechtswissenschaft bewegt sich innerhalb von Anwendungsfragen des positiven Rechts und ist von Haus aus nicht mit der Frage befasst, ob durch ihre Propositionen auch so etwas wie der moralische Sinn des Gewissens getroffen wird.363 Allerdings entstehen ihr nicht unerhebliche Schwierigkeiten daraus, dass die grundrechtliche Freiheitsverbürgung der Gewissensfreiheit eben doch auf die Absicherung einer genuin sittlichen Haltung zielt – was mit dem psychologischen Vokabular einfach nicht hinreichend zu erfassen ist; daher behilft man sich mit eher beiläufig eingeflochtenen und kaum

begründeten Zusatzforderungen, auf die jedoch eigentlich alles ankommt: Etwa die Postulation, es müsse sich um eine sittliche Wertposition handeln.364 Oder auch der Hinweis, die Wertposition müsse sich „im Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker“365 halten, was einem argumentativen Rückfall in die vormoderne Gewissenslogik, der Kopplung des Gewissens an eine prävalente Wertsphäre, gleichkommt.366 Doch damit enthält die empirisch-psychologische Qualifizierung eine Petitio principii: Sie trumpft mit der Aussicht auf eine wertneutrale Kriteriologie auf und setzt dann doch – um ihren Beweisgrund zu erreichen – ein unbewiesenes Wertungsargument voraus.

Die starke rechtswissenschaftliche Indienstnahme des psychologischen Instrumentariums ist zum einen auf den (wie gezeigt für das Argumentationsziel jedoch nicht hinreichenden) positivistischen, wertneutralen Ausgangspunkt der Psychologie zurückzuführen. Andererseits muss man für das vergangene halbe Jahrhundert festhalten, dass die Thematisierung des Gewissens innerhalb der Psychologie auf einen wissenschaftlich fruchtbaren Boden gestoßen ist, ganz im Gegensatz zur Philosophie, in der es einen gewissenstheoretischen Diskurs, als einer kontinuierlichen und progressiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung, eigentlich nicht gegeben hat. So findet sich in der Psychologie eine ineinandergreifende, detaillierte und konstruktive Auseinandersetzung, die etwa zur Gewissensgenese bei Kindern und Jugendlichen, zur Rolle des Gewissens in der Herausbildung der Persönlichkeit oder zum Zusammenhang von Gewissen und Schuld ein umfangreiches Theorierepertoire hervorgebracht hat.367 Diese wissenschaftliche Prosperität schlägt sich auch im Alltagsbewusstsein nieder: Der ‚Mann von der Straße’ wird, angesprochen auf eine theoretische Erklärung des Gewissens, zumindest die Freudsche nennen können und wahrscheinlich erläutern, dass man das Gewissen als Produkt unserer Erziehung, gesellschaftlich-religiösen Prägung und individuellen Lebensgeschichte verstehen müsse.368 Es darf als ein bemerkenswerter Winkelzug der Geistesgeschichte gelten, dass sich ausgerechnet aus jenem Bereich moderner Wissenschaft, in dem das Gewissen besonders ergebnisreich thematisiert wird, nicht nur kein Aufschluss über die sittliche Qualität

des Gewissens – und damit über eines der drängenden Probleme der Gegenwart – gewinnen lässt, sondern dass eine solche fragwürdig, unverständlich und unplausibel erscheinen muss, und das bei dem gleichzeitigen Bewusstsein, das Gewissen doch besser als frühere Generationen zu verstehen. Doch man versteht den erhabenen sittlichen Anspruch des Gewissens einfach nicht mehr, indem man das einstige Naturrechtsmodell genetisierend dekonstruiert. Denn was geben genetisierende Theorien zu erkennen? – Dass es nicht mehr weit her ist mit der Kognition einer überpositiven Sittenordnung im Gewissen, sie entzaubern die einst hehre Stimme des Gewissens als sozial konditionierte Funktion, als von den verschiedensten und kontingenten normsetzenden Institutionen gemacht, so dass es nicht mehr ist als ein durch Internalisierungsprozesse hervorgerufener Spiegel subjektexterner Determinationen. Obwohl das Gewissen, wie Kittsteiner zutreffend feststellt, trotz dieser Attacken der genetischen Gewissenstheorien nicht verschwunden ist, scheint es aber doch fraglich, ob es das alles, wie er meint, „mehr oder minder unbeschadet überstanden“369 hat.

Dietmar Mieth spricht von einer „merkwürdige[n] Dialektik“ des heutigen Gewissensbegriffs, „indem nämlich auf der einen Seite Pluralität, Relativität und Abhängigkeit des Gewissens in seiner Entstehung und in seinen Entscheidungen äußerst differenziert analysiert werden, und auf der anderen Seite das Gewissen auf Grund der Entwicklung der Idee der Menschenrechte und der modernen Demokratie, gesellschaftlich gesehen, einen immer höheren Rang erhält.“ In der Folge macht er (s.o.) die „merkwürdige Beobachtung, daß Gewissen auf der einen Seite immer mehr in Anspruch genommen wird, daß dies aber auf der anderen Seite immer weniger bedeutet“370. Intuitiv verlässt man sich auf sein Gewissen, betrachtet es als (s)eine höchstpersönliche sittliche Kostbarkeit371, und doch müsste man sich gleichzeitig sagen: Was ist es schon? Es ist nur eine „automatische Reaktion“372 (Arendt), die weniger mit einer persönlichen sittlichen Leistung denn mit dem sozialen Umfeld zu tun hat; es ist daher auch nur so gut (oder so schlecht), wie es das es prägende gesellschaftliche und staatliche System, das Elternhaus oder die Religion ist. So spricht das Gewissen, als töne aus ihm wirklich noch die Stimme Gottes, und doch ist es – jeder weiß das – nur ein von kontingenten Faktoren abhängiges Produkt... Ist das Gewissen somit ein Gespenst, das im Kopf des modernen Menschen herumspukt, dessen Brauchbarkeitsdatum längst überschritten ist, das gänzlich unzeitgemäß ist mit uralten Funktionen, die heute der Absurdität überführt sind? Mit Funktionen nämlich, die unter Bedingungen (etwa der traditional verbürgten, monolithischen Sittlichkeit als ihrem Bezugspol) entstanden sind, die es in der modernen, posttraditionalen Welt einfach nicht mehr gibt. Ist es eine Denkform, die zwar über Jahrhunderte funktionierte und sich auch heute noch unweigerlich jedem Einzelnen aufdrängt, die man sich aber aus besserer Einsicht abgewöhnen sollte? Diesen allzuberechtigten Gründen für einen Verzicht auf das Gewissen steht aber entgegen, und auch dessen ist sich jeder intuitiv bewusst, dass die Freiheit des Gewissens eines der zentralen Güter moderner, westlicher Gesellschaften ist.

Eine solche ‚Schizophrenie’ ist ein typisches Merkmal des modernen Gewissensverständnisses, doch sie ist nicht das Ergebnis etwa einer Deflation des menschlichen Geistes gegenüber dem Guten. Sondern diese ‚Schizophrenie’ ist dem modernen Menschen wiederum in die Wiege gelegt worden: Sie ist der unvermeidbare Effekt jener doppelten, gegenläufigen Emanzipationsbewegung des Gewissens von der ihm vorausliegenden objektiven (christlich-abendländischen) Sitte; nämlich einerseits der Abwertung des traditionellen Gewissens und seiner Sittlichkeit als Stimme Gottes bzw. der naturrechtlichen Ordnung durch die genetisierende ‚Enttarnung’; und andererseits der Aufwertung des je individuellen Gewissensspruchs durch die Entstehung säkularer Gewissensfreiheit.

Obwohl das Gewissen von den genetisch und deskriptiv arbeitenden Disziplinen der Soziologie und Psychologie in wissenschaftlich überzeugender und ertragreicher Weise thematisiert wird, muss man zur Kenntnis nehmen: Dem Vertrauensverlust in das Gewissen, ja dem totalen Ruin des Gewissens als einer moralischen Funktion, kann im Wege dieser Theorien nichts ermutigendes entgegengestellt werden, im Gegenteil.373 Der Gedanke, dass das Gewissen etwa

inmitten einer korrumpierten Sittlichkeit noch für eine individuelle moralische Kraft stehen könnte, ist aus dieser Perspektive abwegig und tangiert höchstens seltene Sonderfälle, mit denen eigentlich nicht zu rechnen ist. Erst müsste sich das allgemein herrschende Regelwerk ändern, bevor sich die dadurch determinierten Gewissen der Menschen ändern könnten. Doch warum feiert dann die ganze Gesellschaft bspw. am 20. Juli die Widerstandskämpfer, diese Ausnahmeindividuen? Feiert man sie nur als historische Helden, oder nicht auch als Vorbilder für jeden? Letzteres ist vom bloß psychologisch oder soziologisch vermittelten Standpunkt jedenfalls nicht einleuchtend.374 Denn was man angesichts des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts vom Gewissen der Einzelnen erwartet375 (bzw. erwartet hätte) ist, dass das individuelle Gewissen entgegen allen normativen Prägungen seiner Gesellschaft Bestand hat, dass sich die Gewissen allen genetischen Theorien zum Trotz nicht wie vorausgesagt bilden.376 Man fordert geradezu, dass sie jeder psychologischen und soziologischen Theorie widersprechen, dass sie sie praktisch widerlegen.

 

Die praktische Vermeidung des Gewissens

 

Eine überzeugende Explikation der sittlichen Bedeutung des Gewissens gelingt im Wege der wertneutralen, empirisch-psychologischen Qualifizierungsstrategie nicht. Andererseits ist der Rekurs auf das traditionelle Verfahren der sittlichen Plausibilisierung, nämlich das Bemessen der subjektiven Gewissensposition an einem objektiven Normenkodex, aufgrund der freiheitsgeschichtlichen (im Grundrecht der Gewissensfreiheit deklarierten) Emanzipation des individuellen Gewissens illegitim. Was folgt aus diesem Scheitern eines stichhaltigen und zeitgemäßen Nachweises für eine genuin sittliche Gewissensfunktion? Muss man nicht eingestehen, dass mit der Abkopplung des Gewissens von objektiver Sitte – und d.h. mit der Verselbstständigung des je individuellen Gewissens – auch ein für allemal die Möglichkeit einer allgemeingültigen Verständigung über den sittlichen Wert des Gewissens verloren ist? Schließlich handelte es sich bei dem, wovon sich die Gewissen emanzipiert haben, genau darum: um ihren sittlichen Bezugspol. Alles Deuten und Ergründen einer wie auch immer gearteteten, geheimnisvollen, tief bedeutsamen Sittlichkeit im Gewissen befindet sich dann in einer Sackgasse, stellt ein Nicht-Wahrhabenwollen dieser unvermeidlichen Einsicht dar und verhindert, die aus ihr folgenden Konsequenzen für den heutigen, adäquaten Umgang mit dem

Gewissensbegriff zu sehen und zu akzeptieren. Niklas Luhmann hat mit großer Folgerichtigkeit diesen Schritt vollzogen und gedanklich durchbuchstabiert. Er bilanziert:

„Das Versagen der juristischen Interpretation vor dem Tatbestand des Gewissens geht durch alle Auslegungsschulen. Es betrifft die traditionellen juristischen Auslegungsmittel [...] ebenso wie die vorherrschende geisteswissenschaftlichwertethische Betrachtungsweise. Das Versagen ist vollständig und vermutlich auch dort bewußt, wo es nicht zugestanden wird. Der eigentlich gemeinte Tatbestand, das Gewissen, bleibt Gegenstand achtungsvoller Verehrung. Man tastet ihn nicht an. Man versteht darunter etwas ‚Inneres’, Unzugängliches, Höchstpersönliches, sogar

Heimlich-Geheimnisvolles, das sich im Handeln äußert. Der Vorwurf des Versagens bezieht sich also nicht etwa auf einen Mangel an Hochachtung, Wertschätzung oder guter Absicht, sondern auf einen Mangel an gedanklicher Durchdringung des Tatbestandes. Vielleicht steht sogar das eine dem anderen im Wege.“377 Luhmann pocht energisch darauf, die seit dem 18. Jahrhundert sich Bahn brechenden epochalen Umstellungen des Gewissens ernst zu nehmen, die daraus

folgen, dass der „eine, Recht und Gewissen übergreifende Wahrheitskosmos gesprengt“378 worden ist. Die neuzeitliche Gewissensinterpretation müsse eben offen lassen, ob die Sprüche des Gewissens wahr sind379, sie könne sich nun einmal nicht mehr auf allgemein akzeptierte Wahrheiten stützen und den jeweiligen Gewissensentscheid auf die Übereinstimmung mit ihnen überprüfen.380 Wenn die Wahrheitsbindung des Gewissens jedoch verloren ist, dann hat das Gewissen auch dasjenige (sittlich qualifizierende) Bedeutungselement eingebüßt, das ihm ursprünglich sogar seinen Namen verliehen hat:

„Gewissen ist nicht mehr syn-eidesis, con-scientia, Ge-Wissen, gemeinsames Wissen, ist überhaupt kein Wissen mehr“381. Was bleibt, ist einzig das andere Bedeutungselement, das anfänglich mit ersterem in einer ungeschiedenen, parallel verlaufenden Verbindung stand: nämlich das personenontologische bzw. in nachmetaphysisch-aufgeklärter Sprache: das existenzielle. Das Gewissen ist daher in der Gegenwart (nur) noch „eine Art Eruption der Eigentlichkeit des Selbst, die man nur mit staunender Toleranz zur Kenntnis nehmen und respektieren, aber inhaltlich nicht überprüfen kann.“382

Folglich jagen Gewissenstheorien, die diesen Schritt nicht akzeptieren und immer noch an einem wodurch auch immer erkennbaren sittlichen Gehalt des Gewissens festhalten, einem Phantom hinterher und kommen „in Gefahr, als romantische Ideologie zu versteinern.“383 Zweifellos würde dieser Schritt schwer fallen, und zwar nicht nur im Bezirk der wissenschaftlichen Theorienbildung, sondern vor allem auch im Selbstverständnis jedes einzelnen Menschen; doch es scheint ein längst – seit dem Traditionsbruch (der spätestens im 19. Jahrhundert vollzogenen Abkopplung des Gewissens von der objektiven christlichen Sitte) – überfälliger Schritt zu sein. Die heutigen, unlösbaren Aporien und Ambivalenzen des Gewissensbegriffs zeigen demnach ja nur eines: dass dieser längst überfällige Schritt noch nicht vollzogen wurde, dass die Moderne noch immer an einer seit langem ausgehebelten Denkform und sittlichen Funktion festhält und sich deshalb unweigerlich in Sinnwidrigkeiten verwickelt. Das wahrscheinlich aus der liebgewonnenen Macht der Gewohnheit und der „Trägheit der Tradition“384 (Hübsch) noch immer intuitiv in den Gewissensbegriff gesetzte Zutrauen in einen

sittlichen Bedeutungsgehalt verhindert, dass das Gewissen in der Hinsicht behandelt wird, in der es noch eine Bedeutung hat. So geht man noch immer davon aus, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit dem individuellen Gewissen den Raum geben soll, der ihm zu seiner sittlichen Entfaltung zusteht und den es dafür braucht.

Luhmann kommt jedoch zu einem anderen, konträren Schluss, der nur deshalb für so große Aufregung und Aufmerksamkeit in der Fachwelt sorgen konnte, weil man noch immer an der überkommenen, sittlichen Funktion festgehalten hat (und festhält):

„In schöner Übereinstimmung versteht man unter Gewissensfreiheit allgemein die Freiheit, nach seinem Gewissen handeln zu können. Diese Auffassung leuchtet ein und trifft bei sehr vordergründiger Betrachtung auch zu. Wenn man jedoch nach den latenten Funktionen der Institutionalisierung der Gewissensfreiheit als Grundrecht fragt, wenn man die Beziehung zwischen Freiheit und Gewissen selbst zum Thema macht, wird man zu Überlegungen getragen, die eher das Gegenteil ergeben. Die Gewissensfreiheit soll die Orientierung des Handelns am individuellen Gewissen nicht ermöglichen, sondern ersparen.“ Nach Luhmann dient das Grundrecht der Gewissensfreiheit dazu, Anlässe zur Gewissensorientierung abzubauen.386 Damit steuert die Sozialordnung „den Einzelnen nach Möglichkeit an seinem Gewissen vorbei“387. Sie versuche, das Feld der Handlungsmöglichkeiten so zu strukturieren, dass man Gewissensnöten von vornherein ausweichen kann, dass es gar nicht erst so weit kommt, dass einem das

Gewissen schlägt388 – in Bezug auf welches man ja ohnehin nicht frei sei, sondern sich immer schon sozial auf die eine oder andere Weise konditioniert sehe.389 Das gelingt der Sozialordnung, indem sie ein breites Angebot von Rollen- und Handlungsalternativen (etwa der zivile Ersatzdienst als Alternative für den Wehrdienst) sowie von unpersönlichen Verhaltensweisen bereitstellt und Zwangssituationen zu vermeiden hilft.390 Solchermaßen schützt das Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht nur jeden Einzelnen vor Einbußen personaler Integrität (des Systems der Persönlichkeit)391, sondern es schützt auch die sozialen

Systeminteressen392, es erhält die Stabilität des gesellschaftlichen Systems, das in der Moderne durch Gewissensberufungen393 empfindlich gestört werden kann (wenn sich beispielsweise Ärzte, Polizisten oder Soldaten394 ihren Rollenerwartungen aus Gewissensgründen entziehen).395 Luhmanns bestechender These zufolge kann dem posttraditionalen, von seinem Fundament der objektiven Sittlichkeit abgelösten Gewissen überhaupt keine nachvollziehbare sittliche Bedeutung mehr beigemessen werden – und folglich auch keine konstruktive Funktion innerhalb der Gesellschaft, deren System im Gegenteil durch das Grundrecht (d.h. durch die Einräumung von Alternativhandlungen etc.) vor „Gewissensstößen“396 abgeschirmt werden muss. Damit ist die Gewissensepoche – und zwar nicht aufgrund einer Abwertung, sondern als Resultat einer freiheitsgeschichtlichen Aufwertung des höchstpersönlichen Gewissensspruches – offenbar an ein Ende gekommen.397 Das Gewissen ist zu etwas geworden, das nach Möglichkeit vermieden, nach Kräften nicht bemüßigt werden sollte. Zu einer solchen Einschätzung kommt auch die Thesenreihe Gewissensentscheidung und Rechtsordnung (1997) der Evangelischen Kirche in Deutschland, mit der diese auf aktuelle, heftige kircheninterne Auseinandersetzungen über Gewissensberufungen reagiert.398 Sie empfiehlt in imperativischer Form eine möglichst vorsichtige und zurückhaltende Inanspruchnahme des Gewissens (s.o.): „Sei sparsam mit der Berufung auf das Gewissen und immunisiere dich nicht gegen Argumente, indem du dich vorschnell auf dein Gewissen berufst!“399 Außerdem solle man „das Ergebnis einer vernunftgemäßen Prüfung unterschiedlicher Handlungsalternativen nicht mit einer Gewissensentscheidung“400 verwechseln, die also offenbar etwas anderes, unvernünftigeres ist (und das ist eine Einschätzung, die den modernen subjektiven Gewissensbegriff durchaus beim Wort zu nehmen sucht). Das Argumentationsziel der Thesenreihe ist schließlich der Rat, das Gewissen in einer „gewissenhaften Gewissen-losigkeit menschlicher Existenz“401 hinter sich zu lassen und sich am Evangelium zu orientieren.402 Als Bestärkung dient eine abschließende LutherÄußerung: „Du mußt nicht deinem Gewissen und Gefühl mehr glauben als dem Wort, das vom Herrn verkündigt wird, der die Sünder aufnimmt [...], weil du so mit dem Gewissen streiten kannst, daß du sagst: Du lügst, Christus hat recht, nicht du.“403

Rolf Denker fasst zusammen: „Kurz und gut: Das Gewissen soll nur höchst sparsam bemüht werden, am besten gar nicht.“ Und: „Dem Zweck solcher Gewissensverdrängung sollen offenbar die Thesen dienen“404. Gilt also heute: Wer daran interessiert ist, ein guter Mensch zu sein, hört lieber nicht auf sein Gewissen?

Was für das Gewissen bleibt, ist auch gemäß der protestantischen Theologie die von Luhmann so genannte „Eruption der Eigentlichkeit des Selbst“405, oder in den Worten Dietrich Bonhoeffers: „Das Gewissen ist der aus der Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft sich zu Gehör bringende Ruf der menschlichen Existenz zur Einheit mit sich selbst.“406 Wiederum analog zu

Luhmann kann auch die Gewissensfreiheit dann nicht bedeuten, dem Menschen den Raum für eine freie, höchstpersönliche sittliche Urteilsbildung zu eröffnen, sondern sie bekommt eine transmoralische407 Relevanz für den Erhalt der personalen Integrität.408 Das Gewissen ist nicht mehr Ansatzpunkt eines Verständnisses von Moral, sondern des Seins. Ist es das allein, dieser Schritt vom Sollen zum Sein, der dem Gewissen heute bleibt?

 

Auslaufmodell Gewissen, Nachfolgemodell Verantwortung

 

Im Hintergrund von Luhmanns Vorschlag, den Gewissensbegriff auf seinen ontologischen bzw. existenziellen Bedeutungsgehalt zu reduzieren und vom gleichursprünglichen sittlichen vollständig abzusehen, steht die Problematik, dass in der Gegenwart eine theoretische Absicherung der sittlichen Funktion des Gewissens offenbar nicht mehr zu leisten ist. Schließlich kann diejenige Plausibilisierungsstrategie, die für das Gewissen bis zu den geistesgeschichtlichen

Umwälzungen des 19. Jahrhunderts Geltung hatte, die das Gewissen als Partizipationsfunktion an einer vorgegebenen objektiven Normativität veranschlagte, nicht mehr angewendet werden. Vergegenwärtigt man sich nun den forschungsgeschichtlichen Verlauf der neueren philosophischen Gewissenstheorie, immerhin würde man dort eine neuerliche theoretische Absicherung und Plausibilisierung für eine sittliche Funktion des Gewissens zu erwarten haben,

bekommt Luhmanns These zusätzliches Gewicht: So muss man für das vergangene halbe Jahrhundert konstatieren, dass es einen philosophischen Gewissensdiskurs, in Form einer kontinuierlichen und progressiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung, eigentlich nicht gegeben hat.409 Der Gewissensbegriff ist kein fester Diskussionsbestandteil der praktischen Philosophie.410 Stefan Hübsch erscheint die Situation sogar derart desolat, dass er sich zu einer „Rehabilitierung des philosophischen Gewissensbegriffs“411 herausgefordert sieht. Zwar fehlt es nicht an einzelnen Beiträgen, auch gibt es gelegentlich Symposien und Podiumsgespräche zur Gewissensproblematik. Auffallend ist jedoch, dass der Gegenstand Gewissen darin stets aufs Neue entwickelt und vom übrigen moralphilosophischen Diskurs abgesetzt und herausgeschält werden muss;412 eine wirkliche Arbeitskontinuität findet sich nicht. Die philosophischen Abhandlungen bleiben meist Ansätze und erscheinen inselartig abgesondert vom ansonsten

hochelaborierten moralphilosophischen Betrieb. Ob diese disparate Situation jedoch bereits durch die Komplexität des Phänomens zu erklären ist, darf bezweifelt werden.413 Damit müsste eine disziplinär hochausdifferenzierte Wissenschaftlichkeit fertig werden. Ist es nicht – insbesondere wenn das Gewissen in sittlicher Hinsicht zur Sprache kommt – oft so, dass die philosophischen Beiträge so etwas wie Nachrufe oder Kabinettstückchen von und für Liebhaber eines seltenen Gegenstands sind? Muss man nicht eingestehen, dass es nicht zuletzt deshalb zu keinem tragfähigen Diskurs kommen kann, weil das Gewissen schlichtweg ein Auslaufmodell414 ist und das Nachfolgemodell bereits seit geraumer Zeit feststeht und die Diskussion vollständig beherrscht, d.h. die Diskurshoheit übernommen hat? Demnach traktiert, wer sich auf der Höhe der Zeit befindet, eben nicht mehr – zumindest nicht ‚hauptberuflich’ – das Gewissen, sondern: den Begriff der Verantwortung.

Der Begriff der Verantwortung ist heute wissenschaftlich gesehen gegenüber traditionellen moralphilosophischen Grundbegriffen wie Gewissen, Schuld, Pflicht oder Tugend in den Vordergrund getreten.415 Es ist ein Begriff, der in einem philosophiegeschichtlich äußerst kurzen Zeitraum eine „steile Karriere“416 (Bayertz) erfahren und sich zu einem dominanten Paradigma417 entwickelt hat. Manch einer sieht in der Verantwortung gar ein oberstes Moralprinzip, durch das sich die Grundfrage der Ethik (Was soll ich tun?) in neuartiger Weise beantworten lasse.418 Doch nicht nur in der Wissenschaft, auch in der Öffentlichkeit und Politik ist es heute von geradezu topischer Üblichkeit, sich zu einer verantwortungsethischen Position zu bekennen. Üblicherweise distanziert man sich gleichzeitig vom antithetischen Gegenpol der Gesinnungsethik.419 Für dieses „Koordinatensystem“420 (Wieland) der gegenwärtig prominenten moralphilosophischen Grundausrichtung421 war Max Weber prägend, vor allem seine 1919 publizierte Rede Politik als Beruf, an deren Ende er die folgenschwere Unterscheidung von Verantwortungs- und Gesinnungsethik trifft. Weber stilisiert mit dieser Dichotomie zwei idealtypische ethische Haltungen, zwischen denen sich der Einzelne entscheiden müsse422: Für den gesinnungsethischen Akteur stellen die Reinheit seiner Motivation, seiner Absichten und Grundsätze die hinreichende Handlungsgrundlage dar. Er fragt

darüber hinaus nicht nach den Folgen seines Tuns, lässt sich durch sie nicht beirren und übernimmt dafür keine Verantwortung: „Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille Gottes, der sie so schuf.“423 Am reinsten stellt sich für Weber die Gesinnungsethik dar in der Ethik der Bergpredigt424, zu der die Maxime gehöre: „Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim“425. Ganz anders verhält sich der Verantwortungsethiker. Er orientiert sich an der Realisierungschance und an den voraussehbaren Folgen und Nebenfolgen seiner Entscheidung. Und er ist bereit, für die auf der Realitätsebene manifesten Konsequenzen seines Tuns aufzukommen und dafür Verantwortung zu übernehmen. „Er wird sagen: diese Folgen werden

meinem Tun zugerechnet.“426

Obwohl der Begriff des Gewissens in Webers Rede nicht vorkommt, ist es in der Rezeption üblichgeworden, den idealtypischen Gesinnungsethiker synonymisch als Gewissensethiker zu charakterisieren. Und das heißt: Wer sich zum fortschrittlichen Verantwortungskonzept bekennt, distanziert sich gleichzeitig antithetisch mehr oder weniger ausdrücklich vom rückschrittlichen Gewissenskonzept. Micha H. Werner etwa stellt fest: „Der Bereich, für den der

Gesinnungsethiker Verantwortung übernimmt, beschränkt sich auf sein eigenes Gewissen“427. Analog lautet Wielands Darstellung: „Der idealtypische Gesinnungsethiker normiert sein Handeln auf andere Weise. Er läßt sich in seinen Entscheidungen, sofern sie nur vor seinem Gewissen Bestand haben, durch den Blick auf allfällige Folgen nicht beirren.“428 Und Thomas Möller sagt: „Die Gesinnungsethik ordnet bei der ethischen Qualifizierung einer Handlung der

Gesinnung, dem Gewissen bzw. der Motivation einer Entscheidung die ausschlaggebende Funktion zu.“429 Bei der Bezugnahme auf das Gewissen, so der Gedanke, dreht sich der Akteur nur um sich selbst und ist nur darauf bedacht, die Reinheit seiner Gesinnung und Motivation430 zu wahren – entsprechend der von Hegel so genannten „schönen Seele“, einem Bewusstsein, das „in der Angst“ lebt, „die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Daseyn zu beflecken“431. Betrachtet man nun genauer die Ursprünge und die steile Erfolgsgeschichte

des Verantwortungsbegriffs, dann zeigt sich, dass es sich bei dessen Aufwertung und dem umgekehrt proportionalen Bedeutungsverlust des (wissenschaftlich operablen) Gewissensbegriffs nicht nur um eine polemische Konstruktion oder um ein Kontrastierungsschema zur theoretischen Ortsbestimmung handelt, sondern um einen Ablösungsvorgang des Gewissensmodells durch das Verantwortungsmodell.

Als ein philosophischer Terminus kommt der Verantwortungsbegriff erst im 18. Jahrhundert im unmittelbaren Umfeld des Gewissensbegriffs auf. Er fällt damit just in jene Zeit, in der sich der traditionelle Sinn des Gewissens allmählich verliert. Und in der Tat tritt der Verantwortungsbegriff bei seinem Auftauchen als eine Nachfolgekategorie in Erscheinung, denn er übernimmt sukzessive die Funktion und Stellung des (auch) gewissenstheoretischen Terminus imputatio (Zurechnung), die diesem in der Schulphilosophie der deutschen Aufklärung zukam.432 Was zuvor als Imputation (Aufsichnehmen) der Folgen eigenen Tuns bzw. als dessen

Voraussetzung, als Imputabilität (Zurechnungsfähigkeit) bezeichnet wurde, wird nun durch den Verantwortungsbegriff abgedeckt.433 Diese zunächst partikulare Bedeutungsübernahme wird, so die hier vertretene These, nach und nach auf eine vollständige Ablösung des Gewissensmodells hinauslaufen. Um das zu verstehen, muss man sich die semantischen und strukturellen Gemeinsamkeiten von Gewissen und Verantwortung vergegenwärtigen: Der Verantwortungsbegriff, der sich im deutschen Sprachraum erst im Mittelhochdeutschen nachweisen lässt, geht – wie seine Äquivalente in den anderen europäischen Sprachen, etwa responsibility (engl.) oder responsabilité (franz.) – auf das lateinische respondere, also auf ‚Antwort geben’ zurück.434 Diese Wendung wiederum entstammt dem Rechtsbereich und juridisch geprägten Vorstellungen der christlichen Religion;435 so liegt dem Wortsinn von respondere die Vorstellung eines Gerichtsverfahrens zugrunde: sich vor einer Gerichtsinstanz (für seine Handlungen) rechtfertigen und Rede und Antwort stehen zu müssen.436 Auch in den alltagssprachlichen Redewendungen ist diese Bedeutung meist noch bestimmend, bspw. in dem

Ausdruck ‚jemanden zur Verantwortung ziehen’ oder ‚sich verantworten müssen’.437 Damit enthält der Verantwortungsbegriff eine zum Gewissensbegriff strukturell analoge (dialogisch zu nennende438) Redefigur (das Anklagen und Sichrechtfertigen- Müssen) und gehört zu verwandten juridischen Vorstellungskontexten. Die (dialogische) Grundfigur der Verantwortung lässt sich wie folgt strukturieren: Ein Verantwortungssubjekt verantwortet sich vor einer Verantwortungsinstanz. Demnach steht der Verantwortungsbegriff in einer zumindest zweistelligen Beziehung. Georg Picht und Paul Good benennen eine dreistellige Relation, Otfried Höffe und Kurt Bayertz eine vierstellige und Hans Lenk sogar eine fünfstellige. Bayertz strukturiert den Verantwortungsbegriff dieserart vierstellig: „Ein Subjekt ist für ein Objekt vor einer Instanz in Bezug auf ein Wertsystem ‚verantwortlich’.“439

Einer der entscheidenden Vorzüge dieses Grundmodells von Verantwortung ist, dass es die Grundfunktion des Gewissens (nämlich vor einer Instanz Rede und Antwort stehen zu müssen) abdeckt, dass es dabei jedoch formal unspezifischer als der Gewissensbegriff ist. Daher lässt es in der Belegung der Strukturelemente neuartige Lösungen zu, die nicht mehr von den theoretischen Vorbehalten gegen das Gewissenskonzept betroffen sind.440 Dies betrifft zunächst die Instanz des mehrstelligen Relationsgefüges der Verantwortung: Die Verantwortung in Form des Gewissens definiert als Verantwortungsinstanz stets das eigene Selbst (das als höheres Selbst dann auch auf Gott bezogen sein kann), das heute für viele Autoren unter anderem aufgrund seiner religiösen Vorgeschichte nicht mehr anschlussfähig ist. So stellt Georg Picht heraus, dass die Selbstbeziehung und –thematisierung im Gewissen zur christlichen Sorge um das eigene Seelenheil gehört.441 Auch Kurt Bayertz betont, dass die Vorstellung vom Gewissen als einem inneren Gerichtshof wegen der religiösen Konnotation „in der neueren Diskussion in den Hintergrund gerückt“442 ist. Davon abgesehen impliziert das Gewissen mit seiner intrapersonalen Instanz nach Wolfgang Wieland auch eine immanente Widersprüchlichkeit; denn im Gewissen falle im Unterschied zur juridischen Situation die Instanz des Richters mit der des Anklägers und außerdem noch mit der des Angeklagten zusammen.443

Wegen dieser Identität der Parteien seien durch die Instanz des Gewissens Handlungsfolgen nicht (wie in der Rechtssphäre) sanktionierbar. Das Gewissen verbleibe im Gesinnungshaften, es reguliere „in Wirklichkeit nicht mehr, was jenseits der Sphäre der Haltungen und der Einstellungen liegt“444 (Wieland). Auch für Paul Good ist das Gewissen als Verantwortungsinstanz wirkungslos und daher sinnlos: „Wer aber nur vor seinem wie immer gebildeten Gewissen verantwortet, verantwortet meistens überhaupt nichts. Diese Redewendung bleibt in Praxis und Wissenschaft oft bloßes Alibi.“445 „Auf das Gewissen [als Verantwortungsinstanz, P.D.] zu rekurrieren scheint gleichfalls [wie auf Gott als Instanz zu verweisen, P.D.] problematisch“446, sagt Micha H. Werner. Und Peter Prechtl erklärt: „Der Begriff der Verantwortung kann nicht hinreichend aus der Sichtweise des einzelnen moralischen Subjekts expliziert werden.“447 Statt auf das Gewissen respektive auf das eigene Selbst als Instanz verlegt sich die moderne Verantwortungstheorie – und dies zu können ist wie gesagt der Vorzug des Verantwortungskonzepts gegenüber dem festgelegteren Gewissenskonzept – auf subjektexterne Verantwortungsinstanzen wie den Mitmenschen, die Gesellschaft, die Menschheit, die Natur oder sogar die Geschichte.448 Diese Instanzen bestechen nicht nur durch ihre Widerspruchsfreiheit (Verantwortungssubjekt und –instanz sind anders als beim Gewissen nicht identisch), sondern sie sind vor allem in keiner Weise metaphysikverdächtig. Verantwortungstheorien, die subjektexterne säkulare Instanzen veranschlagen, stehen außerhalb der beim Gewissen immer irgendwie mitgedachten religiösen und seelenmetaphysischen Überlieferung, sind von einer möglicherweise nachteiligen Assoziabilität vollständig befreit. Sie bedürfen auch keiner säkularen Grundlegung und Emanzipation, da sie per se säkular sind. Der eigentliche Siegeszug des Verantwortungskonzepts indes folgt aus den

Entwicklungen moderner Wissenschaft und Technik, die mit einer gegenüber früheren Zeiten unvergleichlich angewachsenen Verfügungsmacht und einer globalen Wirkung von intendierten Folgen und nichtintendierten Nebenfolgen Probleme aufwerfen, die sich der traditionellen, auf die menschliche Nahsphäre konzentrierten Ethik einfach nicht gestellt haben. Das Spektrum beispielsweise unbeabsichtigter, ethisch relevanter Depravationen reicht vom Ozonloch, globalem Temperaturanstieg, Gletscherschmelze, Gewässerkontamination, über Waldsterben,

Bodenerosionen, extremen meteorologischen Phänomenen bis zu Rohstoffschwund, Strahlenschäden und Artensterben. Doch auch die gezielten Eingriffsmöglichkeiten in das ökologische System haben sich auf dramatische Weise geändert: In der Vergangenheit konnte der Mensch von der Natur Besitz ergreifen, sie bezwingen, zurückdrängen und auch partiell beseitigen. Jetzt beherrscht er nicht nur ihre Wirkungen, sondern gestaltet sogar durch gentechnische Intervention in pflanzlichen, tierischen und menschlichen Genombeständen ihre biologischen Grundvoraussetzungen um und bringt neue Phänotypen hervor.

 Es handelt sich um eine Verfügungsgewalt, die vormals Göttern vorbehalten war (die auch die

Verantwortung dafür tragen mussten und tragen konnten), die in irreversibler Weise unabsehbare Konsequenzen hat für menschliches wie nicht-menschliches Leben. Und dabei steht die kaum kalkulierbare Zahl der Betroffenen, die auch noch nicht geborene Generationen umfasst, gar nicht mehr in einem Handlungszusammenhang mit den Verursachern. Neben das nie gekannte Kreationspotential tritt ein schrankenloses Destruktionspotential, die möglichgewordene Vernichtung von Völkerschaften und Erdteilen, sogar der ganzen Biosphäre.449

Spätestens seit dem Trauma der beiden Weltkriege, insbesondere nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, rückte diese neuartige Folgendimension moderner Wissenschaft und Technik immer stärker ins Aufmerksamkeitszentrum der ethischen Reflexion.450 Die theoretischen

Schwierigkeiten, die sich dabei einstellten, konnten mit den bisherigen Grundannahmen und Modellen praktischer Philosophie nicht mehr bearbeitet werden. Der klassische Ausgangspunkt von singulären natürlichen Akteuren, die also auch Gewissensträger sein können, führt angesichts bspw. Korporativer Handlungsvoraussetzungen (wie sie etwa durch ein Industrieunternehmen als Akteur hervorgerufen werden) zu Absurditäten. Doch auch das similäre, systemrelative Handeln vieler Einzelner in industriellen und hochtechnisierten Zivilisationen führt den klassischen Ausgangspunkt an eine Grenze. Denn was hat es mit synergetischen Effekten wie etwa dem Korallensterben oder der Gletscherschmelze auf sich? Sie sind als das Gesamtresultat des kohlendioxidbasierten Handelns u.a. auch vieler Individuen von diesen weder vorausgesehen, noch gewollt, geschweige denn gewünscht. Für sich genommen ist der Handlungsbeitrag des Einzelnen (wenn er sich unter einem Schwellenwert hält) völlig unproblematisch, erst im Zusammenwirken mit unzähligen anderen Akteuren entsteht der ungewollte Effekt. Doch wer soll diesen Effekt verantworten, können sich die Einzelnen deswegen rationalerweise ein Gewissen machen, ist das noch plausibel? Wenn die (finalen) Wirkungen einem Einzelverursacher nicht zugerechnet werden können, wie soll dieser dann normativ dafür haftbar gemacht werden (das erstere ist bei traditionellen Konzeptionen immer eine notwendige Bedingung von letzterem)? Und wie verhält es sich bei nach neuestem

Kenntnisstand nicht prognostizierbaren Nebenfolgen? Bisher galt, dass man nur dafür verantwortlich gemacht werden kann, wofür man auch wissentlich-willentlich einstehen kann, was man planen und beeinflussen kann. All das sind Fragen, die die traditionelle individualethische Vorstellung des Gewissens gesprengt haben.451 So forderte Georg Picht in seinem wegweisenden Werk Wahrheit, Vernunft, Verantwortung (1969) geradezu die Überwindung des bisherigen, an Selbstverantwortung und d.h. am Gewissen orientierten Denkens.452 Die Verfasstheit der modernen Wissenschaft habe „den individualethischen Begriff

der Verantwortung ad absurdum geführt“453, der Begriff der Verantwortung müsse „neu ausgelegt und umrissen werden“454. Eine theoretische Neuorientierung war gefragt, die technisch-wissenenschaftliche Evolution gebot eine angemessene Evolution der ethischen Theorienbildung. Der formal unspezifische, mit Variablen ausgestattete Verantwortungsbegriff, seine Wandelbarkeit im Subjekt-, Objekt- und Instanzbereich, war den nötigen Modellinnovationen gewachsen – ganz im Gegensatz zu dem auf einen singulären Akteur festgelegten Gewissenskonzept. Von nun an drehte sich die philosophische Diskussion vor allem um die Entwicklung von Modellen der Verantwortungsverteilung und -partizipation, um Gruppen- und Mitverantwortungsmodelle in komplexen systemischen Handlungszusammenhängen und um strukturelle Rahmenbedingungen von Handlungssystemen. Dabei hat der sich ausbildende wissenschafts- und technikethische Verantwortungsdiskurs geradezu einen Boom erfahren455, der durch die immer schneller folgenden technischen Innovationen nicht abreißt.456 Die Vielzahl der Ansätze, Modelle und Konzeptionen ist mittlerweile unüberschaubar.457 Umgekehrt proportional dazu ist die Idee des Gewissens in den Hintergrund getreten, denn

 

 

 

Gewissen

 

Für die Entscheidung zum sittlichen Handeln spielt das Gewissen eine wesentliche Rolle. Das deutsche Wort Gewissen leitet sich aus einer Lehnübersetzung für den lateinischen Begriff

"conscientia" her; das althochdeutsche "giwizzani" wurde um 1000 in einer Glosse von Notker Teutonicus zum Psalm 69, Vers 20, eingeführt. Der lateinische Begriff ist die Übersetzung des griechischen "syneidesis". Die Präfixe (syn-, con- und ge-) legen die Bedeutung des Wortes "Mit-Wissen mit jemanden in einer Sache" nahe. Im Gewissen hat der Mensch ein Mitwissen um sich selbst. Er weiß im Gewissen um sein Menschsein im sittlichen Sinne, das heißt, er spürt einen Anspruch, der für sein Handeln verpflichtend ist.

 

Gewissen - Umschreibungsversuche

 

Sokrates (469-399)

Das Gewissen ist etwas Göttliches, eine Stimme die dem Menschen von Jugend an innewohnt und ihn von Schlechtem abhält.

 

Thomas von Aquin (1226-1274):

Das Gewissen (synderesis) kann niemals irren und stimmt immer mit dem göttlichen Naturgesetz überein; es will immer das Gute und verurteilt das Böse. Mit dieser Anlage ist jeder Mensch natürlicherweise ausgestattet. Die Vernunft verarbeite dann die Grundsätze des Gewissens zu logischen und richtigen Schlüssen; der Wille unterwerfe sich dann meistens den Schlüssen der Vernunft, manchmal aber auch nicht. Jetzt erst trete das handelnde Gewissen (conscientia) in Aktion in dreifacher Anwendung: es bezeugt, was getan oder nicht getan wurde; es entschuldigt oder klagt an; es warnt oder ermuntert.

 

Immanuel Kant (1724-1804)

Das Gewissen ist das Bewusstsein vom inneren Gerichtshof im Menschen: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender das Nachdenken sich damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreis, suchen und bloß vermuten, ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz. ...Tugend ist die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht, welche eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst

konstituiert.“

 

Karl Marx (1818-1883)

Das Gewissen ist das Ergebnis der historischen Entwicklung. „Ein Republikaner hat ein anderes Gewissen als ein Royalist, ein Besitzender ein anderes Gewissen als ein Besitzloser, ein Denkender ein anderes als ein Gedankenloser".

 

Friedrich Nietzsche (1844-1900)

„Das Gewissen ist die tiefste Erkrankung des Menschen, deshalb weg mit dem Wahn von Schuld und Gewissen.“

 

Adolf Hitler (1889-1945)

„Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung, eine Verstümmelung des menschlichen Wesens. ... Ich befreie den Menschen von... der schmutzigen und erniedrigenden Selbstpeinigung einer Gewissen und Moral genannten Chimäre (=Ungeheuer)... An die Stelle des Dogmas von dem stellvertretenden Leiden und Sterben des göttlichen Erlösers tritt das stellvertretende Leben und Handeln des neuen Führergesetzgebers, der die Masse der Gläubigen von der Last der freien Entscheidung entbindet.“ Seit dem 19. Jh ist eine neue Grundlegung und Erforschung des Gewissens geschehen, vor allem mit dem Aufkommen der Psychologie. Wichtige Theorien vom Gewissen stammen z.B. von S. Freud, E. Fromm, L. Kohlberg.

 

 

S. Freud:

Das Gewissen ist weitgehend identisch mit dem Über-Ich, welches wiederum am Ende der frühen Kindheit entsteht. Den Triebwünschen des Kindes wurde von außen (z.B. durch die Eltern) mit Geboten und Verboten entgegengetreten. Das Kind übernimmt diese fremden Sichtweisen bzw. wendet sie nach innen. Freud sieht in der Seele des Menschen drei unterschiedliche Bereiche, die oft miteinander in Konflikt stehen:

1. Über-Ich. Darunter versteht Freud vor allem alles das, was uns als Gut und Böse durch Normen anerzogen wurde und mit den verschiedenen Ängsten und Tabus so eingeschärft wurde, das wir nicht mehr zu hinterfragen wagen und uns selbstverständlich danach richten oder wenigstens meinen, es tun zu müssen. Freud nennt diese Sphäre auch das "Gewissen". 

2. Es. Das „Es“ ist für Freud die Triebsphäre; es ist das in uns, was wir einfach ohne jede Einschränkung leben oder sich triebhaft ausleben möchte.

3. Ich. Das ist eigentlich das, was einen reifen und selbstbewussten Menschen mit guter Menschenkenntnis über sich selbst und andere und mit gutem Realitätssinn ausmacht. Das schlechte Gewissen, die Schuldgefühle entstehen, weil das Es den Menschen zu Handlungen führt, die vom Über-Ich verboten sind.

 

Stufen des moralischen Urteils (Lawrence Kohlberg)

Vorkonventionelle Ebene

l. Stufe: Urteilt nach Gesichtspunkten von Lohn und Strafe und unter dem Aspekt physischer Konsequenzen (ca. 6-9 Jahre).

2. Stufe: Urteilt nach dem Schema „Jedem das Seine", „Wie du mir, so ich dir". Es ist eine Austauschansicht, in der Verdienste eine Rolle für Gerechtigkeit spielen (ca. 9-14 Jahre).

Gesellschaftliche (konventionelle) Ebene

3. Stufe: Urteilt nach dem Prinzip der Goldenen Regel: Stelle dich in die Schuhe des ändern. Rücksicht auf die Gruppe und die Gruppenmehrheit (ca. 15-20 Jahre).

4. Stufe: Urteilt nach für alle in gleicher Weise gültigen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten. Gesetze werden wichtig, weil sie garantieren, dass jeder vor dem Gesetz gleich ist (Erwachsenenalter).

Postkonventionelle Ebene

5./6. Stufe: Stufe der universellen moralischen Prinzipien, die es ermöglichen, auch die Gesetze eines Staates zu hinterfragen, zivilen Ungehorsam zu üben und die Möglichkeit universeller Gerechtigkeit zu garantieren. Solche Prinzipien sind christliche Nächsten-liebe, das Recht auf Rechtshilfe, der Kategorische Imperativ etc.

 

Erich Fromm unterscheidet zwischen

kindliches Gehorsamsgewissen (autoritäres Gewissen):

es wird in der Kindheit durch Gebote und Verbote der Eltern geprägt, die das Kind vor äußeren und inneren Gefahren schützen sollen. Auf dieser Stufe handelt der Mensch, um anderen zu gefallen. Das Gefühl, anderen

zu missfallen, erzeugt ein Schuldgefühl.

mündiges Humangewissen (humanistisches Gewissen).

Hier folgt der Mensch der eigenen Einsicht in die von ihm als richtig erkannten Grundsätze und Normen,

die er zu seinen eigenen aus freier Einsicht macht und sich danach ausrichtet.

 

Gewissen in der Bibel

Der Begriff des Gewissens steht im AT nur zwei Mal (Koh 10,20; Weish 17,10). Während es sich in den Evangelien überhaupt nicht findet, wird es von Paulus, dem Hebräerbrief und im Petrusbrief dagegen unwahrscheinlich oft gebraucht (an die 30mal). Es handelt sich um eine im Herzen gelegene Fähigkeit, über die jeder Mensch und die ihr Licht (ihr Zeugnis) verbreitet, um die konkrete Handlung zu leiten (als Gesetzgeber) und sie zu sanktionieren (als Richter). Indem die syneidesis gut und böse unterscheidet, verteilt sie Lob oder Tadel (l Kor 10,28f.; Tit 3,11) als unparteiischer, souverän wahrsprechender Richter (2 Kor 1,12). Sie besitzt Autorität, weil ihr Zeugnis durch Christus verbürgt ist (l Kor 8,12) und in Verbindung mit dem Heiligen Geist (Rom 9,1) oder unter dem Licht Gottes (2 Kor 1,12; 4,2; Apg 23,1; 24,16) gegeben wird. Ein „gutes Gewissen" (l Tim 1,5; l Petr 3,21) ist das, dessen Absicht - vom Glauben erleuchtet (l Tim 1,19; 3,9) - gerade ist, d. h. auf Gott und dessen Dienst gerichtet (Rom 12,2), das auch fest genug ist, seine Entscheidungen durchzusetzen (Apg 23,1; l Petr 3,16). Im Gegensatz dazu ist ein „schlechtes" Gewissen unfähig, sittlich richtige

Entschlüsse zu fassen (Tit 1,16) oder diese in die Tat umzusetzen, ist gezeichnet von der Böswilligkeit und der Scheinheiligkeit des Menschen (Tim 4,2).

 

Gewissen - in der Lehre der Kirche

"Im Inneren seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wir. Nicht selten jedoch geschieht es, dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zu wenig darum bemüht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird." (Vaticanum II, Gaudium et spes n. 16) "Der Mensch hat das Recht, in Freiheit seinem Gewissen entsprechend zu handeln, und sich dadurch persönlich sittlich zu entscheiden. Er darf also nicht gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln. Er darf aber auch nicht daran gehindert werden, gemäß seinem Gewissen

zu handeln, besonders im Bereiche der Religion."

(Katholischer Katechismus n 1782).

 

Begriff Alter Kennzeichen Bemerkungen

Gewöhnungsgewissen - Bis ca 3 Jahren

Erste Triebverzichte, um geliebt zu werden; Gewöhnung an klare Befehle; keine Erkenntnis von Gut und Böse. Liebe, Geborgenheit und Sicherheit für das Kind durch die Eltern. Unbewusste erste Prägung des Kindes durch seine Umwelt. Erfahrung des Kindes: Triebverzicht bringt Belohnung. Menschen, deren Gewissensentwicklung auf dieser Stufe stehen bleibt, reagieren nur auf Lohn und Strafe („nicht erwischen lassen").

 

Identifikationsgewissen oder autoritäres Gewissen - Von 3 bis 12 Jahren

Identifikation mit gelebtem Beispiel von Eltern oder anderer geliebter ezugspersonen; innere Annahme des Beispiels über äußere Gewöhnung hinaus (Freud: Elterliche Instanz ist „Über-Ich" oder „Ideal-Ich"); Kind als Spiegel der Überzeugungen und Verhaltensweisen der Eltern („Mama und Papa haben gesagt...") Bei vielen  Menschen bleibt die Entwicklung des Gewissens auf dieser Stufe stehen: Ausrichtung in allem nach Autoritäten; persönliche Verantwortung und eigenes Urteil sind fremd und verdächtig. Diese Stufe ist aber wichtig, weil das Kind ohne „Wegweiser" hilflos wäre. Verzichten, Teilen, Rücksichtnahme werden eingeübt.

 

Reifendes Gewissen - Von ca 10 bis ca 18 Jahren

Kritische Auseinandersetzung mit Wort und Beispiel der Autoritäten; Erfahrung der Eigenständigkeit; Ahnung, dass eigengeformtes Leben verwirklicht werden soll; Protest gegen eingefahrene Verhaltensweisen ist oft vorhanden. Kritischer Protest gehört zum notwendigen Prozess der Selbstfindung und Selbstverantwortung.

 

Mündiges Gewissen - Ab ca 18 bis 20 Jahren

Frage: „Was bin ich mir selbst schuldig?"; nicht mehr wichtig, was „man" tut; wachsam gegen Bevormundung.

Redliche Auseinandersetzung der Realität und der eigenen Persönlichkeit. Skepsis gegenüber Normen und Weisungen ohne glaubhafte Begründung; oft Rückzug aus Institutionen wie Elternhaus, Staat, Kirche usw.

 

 

Reifungsstadien des Gewissens

Soziale Steuerung menschlichen Verhaltens

 

Das Handeln des Menschen wird mitbestimmt von den psychischen Motiven und auch von sozialen Einflüssen. Einen besonderen Einfluss auf das Handeln haben:

1. Normen

Sittennormen sind Regeln für das zwischenmenschliche Verhalten; sie ermöglichen  Kooperation und entlasten den Einzelnen von einer jeweils neuen Problemstellung; ihre Beobachtung zieht die Zustimmung, ihre Missachtung die Ablehnung nach sich (a-normal).

Funktion der Normen:

- Normen sind ein Ersatz für die mangelnde Instinktgebundenheit und -sicherheit des Menschen. Sie geben Orientierung, die zur Gestaltung des Lebens im sozialen Zusammenleben notwendig sind. Sie beruhen auf starken Erfahrungen, die sich bewährt haben.

2. Die Rolle

ist ein System von Erwartungen, welche die Gesellschaft (oder eine Gruppe) bestimmten Individuen entgegenbringt und die es diesen ermöglicht, in stabile und gesellschaftlich

anerkannte Formen zwischenmenschlichen Verhaltens einzutreten. Die Rolle bedeutet eine soziale Einordnung des einzelnen (und somit Entlastung), sie kann aber auch zur Unfreiheit werden.

3. Das Gesetz

Das Gesetz ist eine Sittennorm, die durch eine Autorität aufgestellt und auf Grund der Macht der Autorität angenommen wird. Gesetze werden fragwürdig, wenn der Pflichtgedanke

nicht mehr wirksam ist und die Beziehung zur Autorität fragwürdig ist.

4. Macht

Macht ist die Fähigkeit eines Menschen, seinen Willen gegenüber anderen Menschen durchzusetzen. Macht ist nicht von vornherein schlecht, kann aber leicht missbraucht

werden.

5. Die Autorität

Autorität kommt von lat.: auctor, bzw. augere = Schöpfer, Vermehrer, Bürge. Autorität stellt eine soziale Grundfunktion dar, durch die Zusammenleben und Kommunikation in einer Gruppe ermöglicht und gefördert wird.

Man unterscheidet heute:

Sachautorität (sozial anerkannte Überlegenheit in Wissen, Klugheit und Können) - ihr entspricht die Bereitschaft sich Orientierung und Rat geben zu lassen.

Persönliche Autorität (sozial anerkannte Überlegenheit in personalen und ethischen Qualitäten) - ihr entspricht Bewunderung, Nachahmung.

Soziale (Amts- oder Leitungs-) Autorität (sozial anerkannte Leitungsfunktion

aufgrund rechtlicher Ermächtigungen) ihr entspricht Gehorsam.

Autorität richtig gehandhabt berücksichtigt:

- Subsidiarität und Delegation (Partizipation)

- Transparenz und Kommunikation

- Information

Einige Regeln zur christlichen Gewissensbildung

- Die Gewissensbildung muss zum Gebrauch der Freiheit führen

- sie muss in Vertrauensatmosphäre geschehen

- sie muss zu guten zwischenmenschlichen Beziehungen führen

- sie muss zur personalen Bindung an Christus führen

- Gewissensbildung muss auch Erziehung zur Vergebung und Umkehr sein.

Das Gewissen und die kirchliche Autorität:

* Das Lehramt der Kirche formt das Gewissen der Gläubigen. Im Konfliktfall muss der einzelne - nach gründlichen Überlegungen - dem Gewissen folgen.

* Das kirchliche Lehramt kann nicht jeder moralischen Situation und jedem Umstand gerecht werden.

* Die Lehren der Kirche sind historisch bedingt.

* Der einzelne sollte offen sein für das Lehramt, das aus einem gewissen Weitblick der historischen Erfahrung und aus den Quellen der Offenbarung ihre moralischen Hilfen formuliert.

Der Gewissenskonflikt

Der Einzelne kann in Ordnungen und Rechtssystemen (Staat) in seiner Entscheidung mit seinem Gewissen in Konflikt geraten (z.B. Abtreibung, Euthanasie, Jugendschutz, ….).

Kriterien zur Lösung von Gewissenskonflikten

* Das persönliche Gewissen ist die letzte Entscheidungsinstanz

* Allgemein anerkannte Normen kommen aus ethischen Urteilen, letztlich also aus dem Gewissen. Sie müssen beachtet und als Entscheidungshilfe gesehen werden.

* Die Wertordnung ermöglicht eine Entscheidung. Man unterscheidet zwischen fundamental-höheren, sozialen und materiellen Werten.

* Das Urteil der anderen unterstützt die Überlegungen. Es gilt zu fragen, ob der einzelne gegen das Urteil vieler oder aller anderen steht.

 

Epikie (Abweichen vom Buchstaben, um den vom Gesetzgeber intendierten Sinn zu verwirklichen).

 

SCHRITTE DER ETHISCHEN URTEILSFINDUNG

Wie kommen ethische Entscheidungen zustande?

Welche Rolle spielt dabei der persönliche Glaube?

Welche Hilfestellungen kann der Glaube bei der Suche nach verantwortbaren ethischen Entscheidungen geben?

(nach: Heinz Eduard Tödt)

Schritt 1: Problemstellung

Bevor man sich auf die Suche nach Lösungen macht, sollte man zuerst mit „kühlem Kopf“ die

Frage stellen: Worum geht es eigentlich bei diesem „Fall“; was ist das Problem? Wer ist daran beteiligt, welche Bedürfnisse spielen mit herein?

Schritt 2: Situationsanalyse

Wenn das Problem erfasst ist, stellt sich die Frage, in welchem persönlichen, gruppenartigen, gesellschaftlichen oder politischen Zusammenhang diese besondere Situation eingebettet und bedingt ist: Von welchem gesellschaftlichen - oder auch psychischen - Faktoren ist diese

konkrete Situation geprägt? Wo gibt es Handlungsspielräume, wo liegen

so genannte "Sachzwänge" vor?

Schritt 3: Verhaltensalternativen

Nach der Problemfeststellung und der Problemanalyse stellt sich die Frage: was ist zu tun? Welche verschiedenen Möglichkeiten (Handlungsalternativen) einer Lösung gibt es und welche Folgen ergeben sich jeweils daraus? Welche der Möglichkeiten kann ich vor meinem Gewissen verantworten?

Schritt 4: Normenprüfung

Bei vielen Entscheidungen unseres alltäglichen Lebens greifen wir auf Normen zurück, die in unserer Umgebung als gut und richtig gelten, die sich im Zusammenleben bewährt haben und ohne die ein Zusammenleben nicht denkbar wäre. Aber es gibt auch gesellschaftliche Normen, die nicht in jedem Fall richtig und für mich bindend sein müssen.

So hat Jesus vom Liebesgebot aus deutlich Normenkritik geübt mit dem Satz: Der Sabbat ist

um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch und des Sabbats willen (Mk 2,27).

Welche Werte sollen meine Entscheidungen leiten?

* Annehmen, Akzeptieren, eine Chance geben

* Echtheit, Glaubwürdigkeit

* Friedensliebe (M.L.King)

* Ehrfurcht vor dem Leben (Schweitzer)

* Nächstenliebe (Fürsorge, Respekt, Verantwortungsgefühl) (Mt 22,39)

* Gemeinschaftsinn, Solidarität (Micha 6,8)

* Bewahren, sorgsamer Umgang mit der Natur (Gen 2,15)

* Zärtlichkeit und Personalität (Hohes Lied)

* Würde des Menschen (Gen 1,27)

Ein Mensch, der spürt, wenn auch verschwommen, Er müsste sich, genau genommen,

Im Grunde seines Herzens schämen Zieht vor, es nicht genau zu nehmen.

(E. Roth, Ein Mensch S. 22)